Keuchenius: E. M. Cioran, 2009
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der blaue reiter Ausgabe 28

 



Der metaphysische Charmeur

E. M. Cioran – Weltverächter und Überlebenskünstler

Misanthropischer Schwarzseher, notorischer Pessimist, nihilistische Sirene, Tiefseetaucher des Schreckens, Gotteslästerer und Untergangsprophet – die Liste der hartnäckigen Klischee-Urteile, die man mit dem Namen E. M. Cioran bis heute verbindet, ließe sich beliebig erweitern. Doch wer sich eingehender mit dem rumänischen, seit 1937 im Pariser Exil lebenden und auf Französisch schreibenden Dichterphilosophen und Kulturkritiker auseinandersetzt, wird auch gänzlich andere Züge an ihm entdecken: „Verglichen mit der Alltäglichkeit des Nichtseins, welches Wunder ist doch das Sein! Es ist das Unerhörte, das, was nicht vorkommt, ein Ausnahmezustand. Nichts hat die Macht darüber außer unserem Wunsch, es zu erlangen, sich den Eintritt zu erzwingen, es im Handstreich einzunehmen. Existieren ist eine Angewohnheit, und ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, sie mir zu eigen zu machen … Ich habe genug vom Nein, das Ja verlockt mich“ (DV 251), bekennt der vielleicht größte Skeptiker seines Jahrhunderts und Erzfeind allen Machbarkeitsdenkens, allen Fortschritts- und Utopieglaubens in Dasein als Versuchung.

 

Tango – der traurige Gedanke,
den man tanzen kann.

 

Die biblische Aufforderung zur Fortzeugung des Menschengeschlechts kann für Cioran (1911–1995) nur das Gebot eines bösen Demiurgen (Weltenschöpfers) sein, „Geburt und Kette“ sind für ihn Synonyme (NG 166). Doch aller radikalen Rede Vom Nachteil, geboren zu sein, vom eigenen Dasein Auf den Gipfeln der Verzweiflung und der sich ihm allenthalben und immerdar bestätigenden Lehre vom Zerfall – so seine extrem formulierten Buchtitel – zum Trotz, erlebt auch dieser schwarzgallige Denker-wider-sich-selbst immer wieder Momente des Staunens, ja der Glückseligkeit angesichts des unauslotbaren Mysteriums menschlicher Existenz, der Rätselhaftigkeit der Welt. „Wir sind am Grund einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist“ (VS 126), formuliert der Meister des Absurden, des Paradoxen und der Provokation 1969 in seiner Essay- und Aphorismensammlung Die verfehlte Schöpfung. Hierin liegt eine versteckte, durchaus „positive“ Dimension seines luziden Denkkosmos, die von seinen Lesern, aber auch Interpreten oftmals übersehen wird.
Damit reiht sich Cioran in eine lange, ehrwürdige Tradition ein, denn bereits für die griechische Philosophie stellte das Staunen und Sich-Wundern (griechisch thaumazein) nicht weniger als die nicht versiegende Quelle allen Denkens dar. Bei Platon lesen wir: „Das Auge hat uns des Anblicks der Sterne, der Sonne und des Himmelsgewölbes teilhaftig werden lassen.“ Dieser Anblick hat uns „den Trieb zur Untersuchung des Alls gegeben. Daraus ist uns die Philosophie erwachsen, das größte Gut, das dem sterblichen Geschlecht von den Göttern verliehen ward.“ Aristoteles dachte genauso: „Denn die Verwunderung ist es, was die Menschen zum Philosophieren trieb.“ Im Wundern werden sich die Menschen des Nichtwissens bewusst, wobei sie das Wissen aber um des Wissens selber willen suchen, und nicht etwa „zu irgendeinem gemeinen Bedarf“. In diesem Sinne formulierte auch der wichtigste mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin: „Staunen ist eine Sehnsucht nach Wissen.“ Im 20. Jahrhundert stellte der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein dann fest: „In der Einzigkeit meines Lebens zeigt sich Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist … Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische.“ Und im Anschluss daran fand Martin Heidegger das Wesen des Mystischen im Staunen über das Wunder, dass es „überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts“ gibt.
Dass sich dieses Staunen, das die Welt mit einem Mal als Wunder begreift, bei Cioran nahezu bis zur mystischen Erleuchtungserfahrung im Stile des Zen-Buddhismus steigern konnte, davon zeugt das sogenannte Kastanien-Erlebnis, das er uns in dem 1973 publizierten Band Vom Nachteil, geboren zu sein schildert: „Als ich zu später Stunde in dieser baumgesäumten Allee spazierte, fiel eine Kastanie mir zu Füßen. Das Geräusch, mit dem sie zersprang, das Echo, das es in mir weckte, und eine Ergriffenheit, die zu einem so winzigen Zwischenfall in keinem Verhältnis stand, tauchten mich ins Wunder, in die Trunkenheit des Endgültigen, als gäbe es keine Fragen mehr, nur noch Antworten. Ich war trunken von tausend unerwarteten Evidenzen (hier: Einsichten), mit denen ich nichts anzufangen wusste … So rührte ich beinahe an das Äußerste. Doch hielt ich es für geraten, meinen Spaziergang fortzusetzen.“ (NG 15)
Wie Cioran in einem Gespräch mit Sylvie Jaudeau berichtet, hatte er bereits Ende der 1920er-Jahre wiederholt die Erfahrung ekstaseähnlicher Zustände gemacht: „Jedenfalls habe ich Augenblicke erlebt, in denen man aus der Welt der Erscheinungen herausgerissen wird und völlig unvorbereitet von unmittelbarer Ergriffenheit gepackt wird. Das Sein ist in eine ungewöhnliche Fülle oder vielmehr eine triumphale Leere getaucht … Diese wenigen Erleuchtungen enthüllen mir die Erkenntnis des höchsten Glücks, von dem die Mystiker sprechen.“ Cioran vergleicht die Ekstasen mit einer Befreiung und gesteht, insgesamt vier solcher rauschhaften Zustände erlebt zu haben – wie Plotin (ca. 205–270).
Neben den vitalen Instinkten, dem verrückten Daseinshunger, waren es wahrscheinlich gerade diese einmaligen Augenblicke einer Mystik der offenen Augen, die den seit seiner Jugend von chronischer Schlaflosigkeit – den einsamen Nuits blanches (weißen Nächten) – Geplagten und vom schmerzlich-melancholischen Daseinsgefühl, ja sogar von Selbstmordgedanken Heimgesuchten „weitermachen“, ihn letzten Endes ein gesegnetes Alter von 84 Jahren erreichen ließen. Zweifellos prägten diese Momente einer „taghellen Mystik“ – um mit Robert Musil zu sprechen – Ciorans „Erlebnisphilosophie“ in nicht unerheblichem Maße. Sind es doch in erster Linie eigene Erfahrungen und subjektive Stimmungen (französisch: sensations) und weniger die reichen Lesefrüchte, welche seine philosophischen Reflexionen stets fundieren: „Alles, was ich angeschnitten habe, alles, über das ich mein Leben lang ausführlich geredet habe, ist nicht zu trennen von dem, was ich erlebt habe. Ich habe nichts erfunden, ich bin nur der Sekretär meiner Empfindungen gewesen.“ (G 137) Philosophische Reflexion hat nach Cioran nur dann einen Wert, wenn sie dem Leben dient, das heißt gelebte Philosophie ist. Und so teilt Cioran mit den Lebensphilosophen (siehe Erläuterung) – von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, über Georg Simmel und Oswald Spengler bis hin zu Ludwig Klages – die Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Erlebens, das Primat der Erfahrung und des Gefühls anstelle des oftmals wirklichkeitsverzerrenden und -entfremdenden Intellekts.
Spätestens seit dem aus einer religiösen Krise entsprungenen Jugendwerk Von Tränen und von Heiligen, das vor allem den Spuren der christlichen Heiligen folgt und eine Erklärungskunst der Tränen zu entwerfen versucht, ist Cioran, der Sohn eines griechisch-orthodoxen Popen, Feuer und Flamme für die Mystiker dieser Welt, die eines mit den Skeptikern gemeinsam haben: Sie üben sich in „Entfaszination“, gehen den Illusionen nicht auf den Leim. Wie viele Philosophen, lassen sich auch die Mystiker nicht von den Gelehrten und ihrer Besessenheit von Systemen auf eindimensionale Standpunkte festnageln, denn: „Der Mystiker erlebt seine Ekstasen und seine Lethargien niemals in den Grenzen einer Definition: nicht den Forderungen des Denkens wünscht er gerecht zu werden, sondern denen seiner Erlebnisse. Mehr noch als der Dichter legt er Wert auf das eigene Erlebnis, weil es ihn mit Gott in Berührung bringt.“ (DV 166) Dem modernen Häretiker Cioran zufolge verdankt Gott den Mystikern alles: seinen Ruhm, sein Geheimnis, seine Ewigkeit. Die mystische Ekstase betrachtet er als wehmütig gesuchten Zustand, wo der Geist ausgedient hat, die Reflexion und mit ihr die Verlegenheitslogik aufgehoben sind.

 

„Die Geschichte hat keinerlei Sinn: wir haben also Grund zur Freude.“ (E. M. Cioran)

 

Außer in der Mystik, der westlichen wie der (fern) östlichen – Teresa von Avila ist seine deklarierte Lieblingsschriftstellerin –, erkennt Cioran vor allem in der Musik ein besonders geeignetes Mittel, um die schmerzenden Fesseln der Vereinzelung, die Einsamkeit des Bewusstseins zu sprengen. Und so begegnen wir in seinem Werk einer Apotheose (Verklärung) der Musik, die ihresgleichen sucht. Im Anschluss an die Kunstphilosophie Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches „Artistenevangelium“ von der Kunst als der letzten metaphysischen Tätigkeit innerhalb des europäischen Nihilismus (siehe Erläuterung) wird die Musik bei Cioran zum erotischen Medium, in dem das Leben kräftig und zerreißend aufscheint, zuweilen aber auch zur Möglichkeit eines metaphysisch-transzendenten Erlebens.
Bereits in seinem Buch der Täuschungen von 1936, das die allgegenwärtigen Illusionen und Selbsttäuschungen, die unser Dasein überhaupt erst ermöglichen, unerbittlich entlarvt, lesen wir zu unserer Überraschung Sätze, die wir einem destruktiven Defätisten eigentlich nicht zugetraut hätten: „Der musikalische Zustand verknüpft in dem Einzelnen absoluten Egoismus mit höchstem Edelmut. Du willst nur du selbst sein, doch nicht um eines kleinlichen Dünkels, sondern um eines erhabenen Strebens nach Einheit, eines Aufbrechens der Schranken der Individuation willen, nicht jedoch im Sinne des Verschwindens des Individuums, sondern der Auflösung der vom Sein der Welt auferlegten Bedingungen.“ (BT 8) Und nicht weniger enthusiastisch: „Musikalische Ekstase ist Rückkunft zur Identität, zum Ursprünglichen, zu den urgründigen Wurzeln der Schöpfung. In ihr bleiben der reine Rhythmus des Daseins, die immanente und organische Strömung des Lebens allein übrig. Ich höre das Leben. Hier beginnt alle Offenbarung.“ (BT 10) …

Autor: Richard Reschika