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der blaue reiter Ausgabe 12

 



Der schöne Körper. 
Gefangener oder Gefängnis?


Zurzeit leben wir im so genannten Jahrzehnt des Gehirns. Gleichzeitig wird dem menschlichen Körper eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet. In zahllosen Artikeln in der Presse wie im Internet, in einer Fülle kulturgeschichtlicher Abhandlungen, auf zahlreichen Tagungen und auch in Forschungswettbewerben ist unser Körper präsent, so bei der Ausschreibung des dritten deutschen Studienpreises mit der Preisfrage „Wie viel Körper braucht der Mensch?“.
Das Feld ist bunt und beinahe nicht mehr zu übersehen. Neben Fragen medizinischer oder erkenntnistheoretischer Art handelt es sich auch um ästhetische Themen, die den Körper als Gestaltungsobjekt auffassen. Ästhetik wird dabei nicht nur auf den Körper in künstlerischen Darstellungen bezogen, sondern auch auf die Kunst am Körper, auf Körpermodifikationen und -optimierungen. Unser Körper ist längst schon keine Sache des Schicksals mehr. Im strengen Sinn war er dies vielleicht niemals. Aber die zahlreichen medizinischen und technologischen Entwicklungen unserer Zeit ermöglichen  neben „Korrekturen“ und „Reparaturen“ auch, den eigenen Körper nach beliebigen Bildern umzugestalten. Zu fragen bleibt jedoch, ob die erhöhte Aufmerksamkeit dem Körper gegenüber nicht  seine Aufwertung, sondern seine Um-, ja sogar seine weitere Abwertung bedeutet. Ist nicht eine Signatur der Geschichte unseres Körpers darin zu finden, dass sich eine gewisse Umkehr vollzogen hat, nämlich die vom Leib als Kerker der Seele, wie zum Beispiel Platon dachte, hin zum Bewusstsein als Gefängnis unseres Leibes, wie Nietzsche und in seinen Spuren vor allem Foucault deutlich machten?

Im März 2000 starb Lolo Ferrari. Als ihr Leben endete, hatte sie das Aussehen einer überzeichneten Barbie-Puppe. Über 20 Operationen hatten ihre Brüste zu Ballons transformiert, die ihr das selbstständige Gehen schwer machten. Bei Bühnenauftritten benötigte sie unauffällige Kompagnons, die sie stützten. Wenn dies nicht gelang, kam der gierige, indiskrete Kamerablick ebenso auf seine Kosten wie in dem Fall, dass alles funktionierte. Die silikongepolsterten Lippen hatten ihr Lächeln verloren und ließen ein müheloses Sprechen nicht mehr zu. Alkohol und Drogen stützten ihr Leben, das sie selbst als unvollkommen künstlich betrachtete. Es sei dahingestellt, ob die Stilisierung ihres Leibes zum Kunstprodukt und zum bloßen Symbol von Sexualität eine selbst gewollte Antwort auf eine verunglückte Kindheit war, ob dies alles nur um des Blickes des Profit bringenden Voyeurs willen geschah oder ob sie von ihrem Management missbraucht wurde. Auch geht es im Folgenden nicht um eine moralische Geste oder eine Ermahnung zum Natürlichen. Es geht vielmehr um die Frage, welche Vorstellung von unserer leiblichen Existenz wirksam ist, wenn der menschliche Körper nach der Maßgabe einer Puppe gestaltet wird, deren Design dem menschlichen Bewusstsein entstammt. In dieser Perspektive macht der Fall Lolo Ferrari auf Veränderungen aufmerksam, die sich auch im Unspektakulären auffinden lassen und dort schon längst so vertraut sind, dass es extremer Ereignisse bedarf, um danach fragen zu können.
Zumindest zwei Tendenzen sind in der Geschichte unserer Leiblichkeit stets festzustellen gewesen. Zum einen fungiert unser Leib als Gedächtnis, worin die verschiedenen Gesellschaften ihre Vorstellungen ein- und fortschreiben. „Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein (während die Sprache sie notiert und Ideen sie auflösen). Am Leib löst sich das Ich auf (das sich eine substantielle Einheit vorgaukeln möchte). Er ist eine Masse, die ständig abbröckelt.“ (Foucault 1993, S. 75) Es gab immer wieder Bilder vom tüchtigen, schönen und gesunden Leib.
Der soldatische Körper verwies auf den Schutz der Gesellschaften, der gesunde auf ihren Fortbestand. Auf der anderen Seite erinnerte der Leib ständig an die Hinfälligkeit des Menschen und erweckte die Sehnsucht nach dem Unvergänglichen. Es wurde schon früh die Frage aufgeworfen, welche Rolle der Leib in Bezug auf unsere Erkenntnis der Wahrheit spielte. Dabei stand die leibliche Existenz des Menschen zu keiner Zeit in Frage. Entscheidend war und ist auch heute noch, welche Bedeutung sie für unser Wissen von den Dingen, von den Anderen und uns selbst hat. Die Konkurrenz zwischen Geist und Leib ist alt, und trotz sehr unterschiedlicher Ausprägungen dominierte die kontemplative und spirituelle Dimension unserer Existenz die leibliche. Dass die letzten zehn Jahre des zweiten Jahrtausends als „Dekade des Gehirns“ bezeichnet werden und manche das kommende Jahrhundert insgesamt unter den Titel „Gehirn“ stellen wollen, ist nur ein Zeichen für diese Herrschaft.

 

Im Vordergrund steht nicht der gelebte Leib,
sondern der vorgestellte, der eingebildete, der
gedachte Leib, der gefangen ist in Modellen,
die der Geist von ihm macht.

 

Techniken der Virtualisierung unserer Welt entrichten ihren Obolus an die gedachte Welt (vgl. Meyer-Drawe 1996, S. 189ff.). Aber die Lage ist mehrdeutig. Denn gleichzeitig wird der Körper unerbittlichen Bearbeitungen unterworfen. Während sich tausende von Menschen in anstrengenden Marathons der Zuverlässigkeit ihres „natürlichen“ Körpers versichern, bleibt im Streit um die Bestimmung des Endes unseres Lebens nur noch eine Definition übrig, die von Apparaten diktiert wird. Während die Möglichkeiten wachsen, den eigenen Körper durch Operationen, durch Piercing, Branding, durch Tattoos und Implantationen zu modifizieren und zu optimieren, scheint in den Augen einiger unser Leib am Verstehen der Welt nicht beteiligt zu sein. Welt wird lediglich als Konstruktion des Gehirns aufgefasst, das als geschlossen operierendes System nur auf sich selbst antwortet und das auf merkwürdige Weise unleiblich ist. Während in extremen Sportarten die Lust am Risiko des Leibes gesucht wird, entfalten Theoretiker der künstlichen Intelligenz oder des künstlichen Lebens Visionen von Gesellschaften absolut freier, das heißt von den Bedingungen der Körperlichkeit befreiter „Kinder des Geistes“ (Moravec). Während der Körper im Sinne der Transplantationstechniken fragmentiert und instrumentalisiert wird, schwärmen nicht nur New-Age-bewegte Fantasten und unverbesserliche Romantiker von Ganzheitlichkeit, sondern finden auch im philosophischen Raum Vertreter des fühlenden Leibes und Anhänger fernöstlicher Leiberfahrungen zunehmend Gefolgsleute. Die Strömungen sind aber nur zum Teil und auch lediglich auf den ersten Blick widersprüchlich. Sie werden geeint durch den Wunsch, den Leib zu beherrschen, um selbst nicht in seine Knechtschaft zu geraten. Was zunächst so scheint, als agiere der Leib wie nie zuvor seine Selbstständigkeit aus, erweist sich bei näherem Hinsehen als seine Abhängigkeit von den Entwürfen, die sich das Bewusstsein von ihm macht. Auch auf die Liebe des Menschen zu sich selbst trifft die berühmte Keuner-Geschichte von Bertolt Brecht zu:

„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge dafür, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“, „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“ (Brecht 1967, S. 386)

Sinnfällig wird dies durch Performances wie die von Stelarc, der seinen Körper um einen dritten Arm, wie er meint, bereichert. Auch die Künstlerin Orlan demonstriert die Herrschaft des Entwurfs, wenn sie ihren Körper wie eine „fleischliche Montage“ behandelt und nach eigenen Computervorlagen umoperieren lässt (vgl. Ivanceanu, Schweikhardt 1997, S. 292). Im Vordergrund steht hier nicht der gelebte Leib, der von seiner Welt in Anspruch genommen wird, sondern der vorgestellte, der eingebildete, der gedachte Leib, der gefangen ist in Modellen, die der Geist von ihm macht. Dies ist durchaus keine künstlerische Extravaganz, sondern verweist auf eine lange Geschichte, die Foucault folgendermaßen zusammenfasst:

„… man hat an die Stelle der Seele, der Illusion von Theologen, nicht einen wirklichen Menschen, einen Gegenstand des Wissens gesetzt. Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“ (Foucault 1977, S. 42)

Foucault fasst hier wie in einem Brennglas zentrale Einsichten seiner Analysen der Macht zusammen. Selbst die moderne Beschreibung des Menschen als ein autonomes Subjekt ist Produkt von Machttechniken. In Bezug auf die heute populären Praktiken von Körperkulturen kann man diese Analyse fortschreiben: Noch in dem unentwegten Gerede über unsere körperliche Existenz und der gebündelten Aufmerksamkeit für sie versteckt sich die Struktur, dass es eine wie auch immer aufgefasste Seele ist, die ihre Bilder verwirklicht und unsere Sinnlichkeit nach ihren Vorstellungen manipuliert. Die Diagnose, dass die Seele zum Gefängnis unseres Körpers geworden ist, dreht die platonische Auffassung vom Körper als Kerker der Seele um.
Es ist daher angezeigt, diesen Faden erneut aufzunehmen, um die Transformation des Leibes in einen bloß gedachten, der dann seinem Design immer ähnlicher wird, genauer zu verfolgen.
Merleau-Ponty, der in seiner Philosophie des Fleisches versucht, gegen diese Entwicklung zu steuern, analysiert den philosophischen Beitrag zu dieser Transformation folgendermaßen:
Eine Reflexionsphilosophie (das heißt, eine Philosophie, welche das Denken in ihren Mittelpunkt stellt) „– als methodischer Zweifel und als Reduktion der Weltoffenheit auf ‚geistige Akte‘, auf innere Beziehungen zwischen der Idee und ihrem Ideat (ihrer Entsprechung in der Wirklichkeit) – ist dem, was sie erhellen will, auf dreifache Weise untreu: der sichtbaren Welt, demjenigen, der sie sieht, und seinen Beziehungen zu den anderen ‚Sehern‘“. (Merleau-Ponty 1986, S. 61) Ihre Untreue besteht darin, dass sie die wahrgenommene Welt in eine bloß gedachte, den Wahrnehmenden in einen lediglich denkenden und schließlich den anderen Menschen in einen undenkbaren verwandelt hat. Unsere leibliche Existenz wird verzerrt zu einem intellektuellen Akt. Von dieser Diagnose ausgehend, kann man die platonische Einschätzung des Leibes als Kerker der Seele geradezu als Würdigung unserer sinnlichen Existenz lesen. Denn wie mächtig wird die Sinnlichkeit gedacht, wenn sie den so hoch geschätzten Ideen, welche die wahre Wirklichkeit sein sollen, derart im Wege stehen kann?

Autorin: Käte Meyer-Drawe