Siegfried Reusch
Chefredakteur
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Gefühle


Gefühle sind unvermeidbare Zustände, die uns oft ohne erkennbaren Grund überfallen, Tönungen des Erlebens, die sprachlich nur schwer zu beschreiben sind. Da man über Gefühle rational nicht verfügen kann, erscheinen sie vielen Verfechtern der reinen Vernunft als bedrohlich. So bezeichnet Chrysippos Gefühle als „Krankheiten der Seele“, für Immanuel Kant sind sie lediglich die menschliche Empfänglichkeit für Lust und Unlust, und Johann Friedrich Wilhelm Hegel schreibt mit Verweis auf die Privatheit und somit Nicht-Mitteilbarkeit der Gefühle: „Man beruft sich häufig auf sein Gefühl, wenn die Gründe ausgehen; … mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft unter uns abgerissen.“ Aristoteles ist der Meinung, dass, wer sich zu sehr von seinen Emotionen bestimmen lasse, weder sich selbst beherrschen noch andere regieren könne, und für die Philosophen der römischen Stoa ist weise nur derjenige, dem es gelingt, durch seine Vernunft alle Leidenschaften und Triebe zu beherrschen.
Selbst wenn man derart die Geschichte der Philosophie vereinfacht als den Versuch lesen kann, Verfügungsmacht über die Gefühle zu gewinnen, ist die Tradition der Unterwerfung der Gefühle unter den Herrschaftsanspruch der Vernunft in der Geschichte der Philosophie nicht ganz so ungebrochen, wie es scheinen mag. Blaise Pascal zum Beispiel gesteht Verstand und Gefühl unterschiedliche Gegenstands- und Erkenntnisbereiche zu, bei Jean-Jacques Rousseau heißt es:

 

„Die Vernunft formt den Menschen, das Gefühl
leitet ihn“,

 

und für Ronald de Sousa haben Gefühle eine eigene Form der Rationalität. Martin Heidegger zufolge ist die theoretische Erkenntnis gar darauf angewiesen, dass Gefühle dem Menschen die Welt bereits in einer Art und Weise „erschlossen“ haben, wie es durch Sinneswahrnehmung und Rationalität allein nicht möglich wäre. „Vernunft ist niemals ganz frei von Befindlichkeiten und Stimmungen; Letztere strukturieren jede theoretische Erkenntnis ebenso vor wie die praktische Orientierung in der Welt“, schreibt Hilge Landweer in ihrem Beitrag Die Grenze der Vernunft. Gefühlskonjunkturen in der Philosophie. In ihrer Analyse des Denkens über Gefühle in der Geschichte der Philosophie verweist sie auf die Rolle der Gefühle für die Selbstwahrnehmung des Menschen. Subjektivität, so schreibt sie mit Bezug auf Hermann Schmitz, wird erst möglich durch die Betroffenheit, welche Gefühle in uns erzeugen, „denn dass etwas mich angeht, mir geschieht, merke ich leiblich, etwa in Angst oder Schreck als plötzliche Verengung:Ich zucke zusammen, ich bin erschrocken, und nicht irgendjemand anderes.“ Dabei, so Landweer, darf auch nicht vergessen werden, dass, wie Jean-Paul Sartre in seiner Theorie der Emotionen ausführt, die Beziehung des Ichs zum anderen durch nichts anderes als durch ein Gefühl thematisierbar ist – durch das Gefühl der Scham nämlich, das die Perspektive des anderen von vornherein enthält.
Das Grundgefühl der Scham, das weder ein Ziel noch einen Zweck kennt, das in keiner Weise steuerbar ist und weder der Willkür noch einer kulturellen Variation unterliegt, so Stefan Diebitz unter dem Titel Die Moral des Striptease. Anmerkungen zu einer Philosophie der Scham, hat seinen ursächlichen Bezug im anderen – es gründet im „In-der-Welt-Sein“ des Menschen. Die Schamhaftigkeit, deren Ausdruck rein körperlich und in der Intensität nur mit der Angst vergleichbar ist, gründet im „Bewusstsein des Menschen von seiner Individualität“. Und, so führt Diebitz aus, sie ist abhängig vom Vermögen, „sich mit den Augen anderer zu betrachten“.
Unter dem Titel Sehnsucht. Das Außer-sich-Sein der Vernunft verweist Günther Bien auf einen besonderen Zusammenhang von Vernunft und Gefühl – auf das einzigartige Grundgefühl der Sehnsucht, das schmerzliche Verlangen als der Erfahrung des göttlichen Lebens der Vernunft. Die Sehnsucht, so Bien, führt dem Menschen seine Endlichkeit vor Augen, „sie ist die ausgezeichnete Seinsweise, in der er von allem Seienden ursprünglich und dem Wesen nach unterschieden ist“. In der Sehnsucht sieht er das „Streben der Vernunft, sich in ihrem Einssein mit dem Ewigen (dem Absoluten) zu fassen“.
Frank Ike verweist in seinem Beitrag Das Gefühl der Vernunft. Gefühl zwischen innerem Zustand und Offenbarung auf die Wertschätzung des Gefühls durch Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Heinrich Jacobi. Den Abschluss der Begriffsentwicklung des Gefühls innerhalb der Fichte’schen Wissenschaftslehre sieht er in der Lehre vom „Gewissensgefühl“. Darunter versteht Fichte ein leitendes Gefühl des Wahren und Guten als Voraussetzung für alles ethische und religiöse Denken:

 

„Das Gefühl gibt der Erkenntnis außer der
Gewissheit auch die Richtung vor.“

 

Anthony Ashley Cooper Shaftesbury und Francis Hutcheson sind der Ansicht, dass Motivation und Rechtfertigung einer Handlung nicht ohne eine Bezugnahme auf Gefühle möglich seien. Mit der These, dass die Leidenschaften des Herzens – weit mehr als die Erkenntnisse des Verstands – Ursache menschlicher Handlungen seien und die Menschen über einen natürlichen „Sinn für das Richtige und das Falsche“ verfügten, beantwortet Shaftesbury die Frage nach der Rolle der Gefühle für die Moral. Demgegenüber sieht Bernard de Mandeville in Anlehnung an Thomas Hobbes die Selbstliebe als alleinige Triebfeder menschlicher Handlungen, weshalb er es für vorteilhafter erachtet, die Entstehung einer tugendhaften Gesellschaft einem Gesetzgeber anzuvertrauen, der die Menschen überzeugen könne, dass es besser sei, das allgemeine Wohl im Auge zu haben, als den privaten Begierden zu folgen, erläutert Laura Benzi unter dem Titel Sind Gefühle moralisch? Erst die Verinnerlichung der vom Gesetzgeber aufgestellten Bewertungsregeln, quasi als Gefühl, ermögliche die Zivilisierung der Menschen.
Die gegensätzlichen Bewertungen des Gefühls seitens der Philosophen legen den Verdacht nahe, so Bernhard Waldenfels in seinem Beitrag Das Fremde im Eigenen. Der Ursprung der Gefühle, dass man über alle Maßen verdammt beziehungsweise preist, was man vermisst. In der Verengung von Gefühlen auf das Empfinden des Einzelnen sieht er die Entsprechung zur Entzauberung des beseelten Kosmos. Seit die Gestirne und Naturereignisse nicht mehr Repräsentationen beziehungsweise Manifestationen der Götter sind, der Mond nurmehr ein kaltes, Naturgesetzen unterworfenes Gestirn und nicht mehr Fluchtpunkt der Träume der Verliebten, ist uns das verloren gegangen, was die Denker der Antike Pathos nannten. Das Pathos ist weit entfernt vom heutigen Gefühlsmanagement, das heißt von einem Gefühlshaushalt, den jeder selbst zu verwalten glaubt. Pathos meint die Einbettung des Denkens und Fühlens in ein sinnvolles Ganzes, eine Form der Wahrnehmung, die mit der Empfindung anhebt, ein Überschwang der Leidenschaft, in der sich die Welt auf einen einzigen hellen oder dunklen Punkt zusammenzieht. Anders als die privaten Gefühle der Neuzeit ist Pathos keine Komponente der Erfahrung, sondern deren treibende Kraft, ist Abweichung vom Gewohnten, Überschuss an Nichtlernbarem in allem Lernbaren. Werden die pathischen Überschüsse wegrationalisiert, so Waldenfels, laufen wir Gefahr, „dass der Logos (die ordnende und lenkende Vernunft) sich von dem Pathos abspaltet, dem er seine Schwungkraft verdankt“.
Auch der Hirnforscher Ernst Pöppel kritisiert den blinden Glauben an ein sich im Wesentlichen rational seiner selbst versicherndes Ich. „Wir bewegen uns in einem Meer neuronaler Prozesse, aus denen manchmal Prozesse herausdestilliert werden, die bewusst werden, damit ich mich anderen mitteilen kann. Das meiste läuft aber implizit ab“, so Pöppel im Interview. Gefühle könne man auf Grund der engen Verzahnung der Prozesse, die wir Gefühle nennen, mit anderen Leistungen des Gehirns wie Erinnern, Wahrnehmen oder Handeln nicht isoliert betrachten. Gefühle sind für ihn Bewertungen, die einzig dazu da sind, neue Handlungsoptionen zu eröffnen, und:

 

„Gefühle sind der Klebstoff, um eine Kontinuität des Erlebens herstellen zu können.“

 

Gefühle gelten als authentisch und ursprünglich. Sie lassen uns etwas durch Wahrnehmungs-schleier hindurch ahnen, das uns mit dem Verstand nicht zugänglich ist. Dass Gefühle weit mehr sind als eingebildete Sentimentalitäten und auch mehr als unbewusste Wahrnehmungen, weist Wolfram Hogrebe in seinem Beitrag Gefühle als Antennen auf. Ahnungen, so Hogrebe, scheinen einen Kontakt zur Wahrheit zu unterhalten, der über ein sehr feines oder unbewusstes Wahrnehmen und Empfinden hinausgeht: „Wir müssen mit einer Eigendynamik im Reich der Gedanken rechnen, die sich unser als Medien bedient. Den glücklichen Einfall, die Idee, die uns kommt, können wir jedenfalls nicht erzwingen. Ohne diese Eigendynamik der Gedanken wären wir eines neuen Gedankens überhaupt nicht fähig.“
Robert Musil begreift die Gefühle als Brücken, welche die Seinsbereiche des Rationalen und des Irrationalen verbinden. Jeder Denkvorgang ist Musil zufolge so beschaffen, dass in ihm Gefühl und Gedanke untrennbar verknüpft sind. In seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften übt er Kritik sowohl an der rationalistischen, naturwissenschaftshörigen Moderne als auch an einer irrationalistischen, quasi-mystischen Betonung der „Seele“ und entwirft eine Theorie des Gefühls als eines „anderen Zustands“, als neuem ganzheitlichem Lebenskonzept, als Betonung des „Möglichen“, dem verdrängten Gegenpol des „Wirklichen“. Um jedoch nicht in einen mystisch gefärbten Irrationalismus zu geraten, so schreibt Jutta Heinz unter dem Titel Der „Scherbenberg der Gefühle“. Die wirklichkeitsverändernde Kraft der Gefühle bei Robert Musil, „muss das Reden über Gefühle wissenschaftliche Genauigkeit mit anschaulicher Lebendigkeit verbinden. Musils Ziel ist ein sachlicher Enthusiasmus des Denkens, der die verlorene Einheit von Gedanken und Gefühlen wiederherstellt.“
Wie auch immer man das richtige Verhältnis von Gefühl und Verstand gewichten mag, ob man, wie Baruch de Spinoza, die Vernunft als einzige Autorität gelten lassen mag oder wie Scheler mit Verweis auf das ursprünglich im Erleben des Menschen verankerte Gefühl der Sympathie dem Gefühl das größere Gewicht beimisst, bedenken sollte man immer die Erkenntnis Fjodor Dostojewskijs: „Große Gedanken entspringen weniger einem großen Verstand als einem großen Gefühl.“ Ist es doch nur allzu oft so, dass der Verstand im Nachhinein das zu begründen sucht, was das Gefühl längst gefunden beziehungsweise immer schon gewusst hat.

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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