Fotografie: Peter Franck



Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 18 > zurück zur Themenliste

 



Die eindimensionale Erinnerung. Der süße und der hässliche Kuss der Erinnerung


Erinnerung ist Wiederbegegnung. Gleich, ob sie altersbedingt geschönt, bewusst verfälscht oder der Mantel der Zeit als Notbehelf über ein Trauma gehängt wird: Erinnerung hat eine reflexive Struktur. Erlebtes taucht noch einmal als Bild auf, trifft auf sich selbst und wird bei dieser Wiederbegegnung massiv bearbeitet. Aber gibt es auch eine Erinnerung, die uns gleichsam unsere Wurzeln aufzeigt, die uns befähigt, die Welt zu klassifizieren, zu ordnen, die Natur in ihren Strukturen zu erfassen und uns selbst unter soziale Gesetze zu stellen? Gibt es eine Erinnerung an eine bessere Welt?

 

Wir schönen das Erinnerte, um Schmerz zu
verbannen.

 

Eine besonders häufige Form der Vergangenheitsbewältigung ist die „geriatrische“ Variante: dass früher alles besser war, die Luft, die Jugend, die Politiker… Dieser rosarot verfärbte Blick zurück wird aufrechterhalten, obgleich doch das 20. Jahrhundert weitestgehend Horror-szenarien von Krieg, Massenmord und seuchenhaften Kollektivverbrechen hervorbrachte. Geriatrisch ist dieser geschönte und moralisierende Blick zurück schon deshalb, weil er häufig der Kritik der Jugend entgegengehalten wird und auf die legitimierende Erfahrung des Alters pocht. Alter ist quasi der Prüfstein der Wahrheit. Aber schon Max Weber wusste: „Nicht das Alter macht es.“ Das Datum des Geburtsscheins ist kein hinreichendes Gütesiegel für authentisches Erinnern, häufig eher für verfärbtes, moralinsaures Ermahnen.
Eine weitere Variante des rosaroten und verstümmelten Blicks zurück ist die individuelle wie kollektive Geschichtsverfälschung oder Geschichtsverdrängung – wenn zum Beispiel wieder einmal ein verbeamteter Bildungsdiener seine Vergangenheit, sprich Erinnerung, vergisst oder schönt.
Und schließlich existiert noch eine therapeutische Variante: dass die Zeit – angeblich – alle Wunden heilt. Dieser Kuss des Vergessens ist jedoch bei so manchem, die Psyche tief erschütternden Ereignis ein vergifteter Kuss. Immer wiederkehrend besucht das Trauma sein Opfer, erscheint der „Alb“, als „Albtraum“, als gleichsam die Person zerquetschende, ihre Physis erdrückende Angst. Schmerz ist Erinnerung: Unser Körper und unsere Psyche klopfen bei uns an. Im Schmerz stehen beide nicht mehr draußen vor der Tür. Körper und Psyche sind präsent, sie melden sich zurück, sie erinnern uns an uns. Schmerz ist ein wichtiges Tor zur Erinnerung oder im Gegenzug: Wir schönen das Erinnerte, um Schmerz zu verbannen.
Schon diese drei Varianten der Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise -verklärung zeigen ein wesentliches Struktur- und Prozessmerkmal der Erinnerung. Gleich, ob die Erinnerung altersbedingt, sprich geriatrisch, unbewusst geschönt oder bewusst zur Selbst- oder Geschichtsverklärung verfälscht oder der Mantel der Zeit als berechtigter Notbehelf über ein schwer heilendes Trauma gehängt wird: Erinnerung hat eine reflexive Struktur. Das Erlebte oder die zu erinnernde Handlung oder Unterlassung tauchen noch einmal als Bild auf, treffen auf sich selbst und werden bei dieser Wiederbegegnung massiv bearbeitet. Bei unserem Stelldichein mit dem Vergangenen findet offensichtlich eine massive Umgestaltung seitens des Unbewussten oder des Bewussten am ursprünglichen Phänomen statt: Unangenehmes wird vergessen oder weggelassen, Angenehmes überbetont, Traumatisches, so weit dies möglich ist, verscharrt. Die Bearbeitung – dieser wie auch immer verfälschende Vorgang – ist das prozessuale, das dynamische Moment der Erinnerung. Erinnern ist nie nur reine Wiedergabe, nie nur Kopie dessen, was war. Das Wesentliche der Erinnerung ist die von uns oder einem Kollektiv vorgenommene Bearbeitung.

Wenn Zeit sich selbst begegnet

Aber können wir uns nur an das erinnern, was wir selbst erlebt, beobachtet, wahrgenommen, was wir selbst verwirklicht oder unterlassen haben? Sicherlich nicht. Wir sprechen unbekümmert von der Französischen Revolution, obgleich keiner von uns sie direkt beobachtet oder an ihr mitgewirkt hat. Wir erinnern uns auch an Tradiertes (Überliefertes, Erzähltes…), also an bereits Erinnertes – die Erinnerung begegnet sich selbst. Damit nicht genug: Wenn wir uns jetzt an Vergangenes erinnern, etwa an die besagte Französische Revolution, erinnern wir uns an „gegenwärtig Vergangenes“, an das, was zwar vergangen ist, aber uns jetzt „präsent“, sprich gegenwärtig ist. Auch hier begegnet uns wieder das merkwürdige Phänomen, dass Erinnerung ein reflexives Moment als Struktur und Prozess in sich trägt.

 

Gibt es eine Erinnerung an eine bessere Welt?

 

Wollten wir systematisch vorgehen, so müsste es auch eine „gegenwärtige Zukunft“ geben, etwa die derzeit präsenten Zukunftsszenarien und ein „gegenwärtiges Gegenwärtiges“, etwa das traditions- und zukunftsfreie Handeln im Jetzt oder das unmittelbar Erlebte. Erinnerung zwingt also auch Zeit zur Wiederbegegnung. Die Modi, sprich die Formen der Zeit, werden miteinander verknüpft und aufeinander bezogen, zum Beispiel „gegenwärtig Vergangenes“ in Form von Tradition, Gedächtnis, Geschichte; „gegenwärtig Gegenwärtiges“ als „unmittelbar Erlebtes“ und „gegenwärtige Zukunft“ als Pläne. Kurz: Zeitbestimmungen werden reflexiv durch Mehrfachmodalisierung, das heißt durch den Bezug der verschiedenen Zeitmodi – Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft – aufeinander.

Wieviel Erinnerung brauchen wir fürs Glück?

Wieviel Erinnerung braucht der „gegenwärtige Mensch“, die „jetzige Gesellschaft“, der „omnipräsente Staat“? Wieviel Geschichte ist nötig um zu Überleben, zum gut Leben, zum Glück? Wieviel sollten wir vergessen, verscharren, verdrängen? Wo beginnt das gesunde, wo das krankhafte Neutralisieren unserer Geschichte?
Was steckt zum Beispiel hinter dem Gott aller Götter unserer Zeit, dem Glück des Konsums? Geld wohl deshalb, weil es nicht nur das Bad im Konsum ermöglicht, sondern vor allem, weil es nicht stinkt, von seiner Erinnerung befreit ist und alles geschichts-, sprich erinnerungsfrei verrechnet. Wenn in St. Moritz die Bereicherungsaristokraten einfallen, ist beim Juwelierbesitzer die Erinnerung, woher der viele Zaster denn eigentlich stammt, vergessen und Glück präsent. Wenn der Staat seine Bürger wieder einmal mit einer Anleihe beglückt, wird darauf gebaut, dass die das Volk ausraubenden Anleihen, etwa in Form nie zurückgezahlter Kriegsanleihen, vergessen sind.
Umfassende Erinnerung ist lästig und mitunter erdrückend. Wer sich nur einmal mit der Massenvernichtung im Hitlerismus beschäftigt hat, wird einen gewissen Schrecken und Schmerz vor dem perfekten Zusammenwirken von Staatsbürokratie, technischer Effizienz und ökonomischer Ausbeute kaum mehr abstreifen können, es sei denn er ist Großmeister des Verdrängens und Unterdrückens. Ist er deshalb auch Großmeister des Glücks? Schwer zu sagen, aber er ist zumindest häufig eines: ein Großmeister der Karriere – wie die Erinnerung zeigt.

 

Das Wesentliche der Erinnerung ist die
vorgenommene Bearbeitung.

 

Benötigt eine moderne Gesellschaft diese Neutralisierung von Erinnerung, um alles mit allem kompatibel zu machen, etwa grenzenlose Gentechnologie mit tiefgläubigem Christentum, blutrünstige Diktaturen mit humanitären Demokratien, Hightech mit Stammesriten? Der Teufelsaustreiber zückt sein Notebook und lädt übers Internet die Buschtrommeln für sein Beschwörungsritual herunter. Befreit von jeglicher Geschichte, der täglichen Pflicht zum Konsum folgend, findet scheinbar das Glück in der „gegenwärtigen Gegenwart“ statt, als „eindimensionales Glück“ im Jetzt…

Autor: Otto-Peter Obermeier


Diese Ausgabe ist leider vergriffen.