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der blaue reiter Ausgabe 1 > zurück zur Themenliste

 



Was ist und zu welchem Ende studiert man Philosophie?


Auf die Frage, was die Chemie oder die Physik sei, lassen sich die Antworten auchnicht gerade aus dem Ärmel schütteln; aber man weiß doch – wenn schon nichtanders, wenigstens aus Schulzeiterinnerungen – in welcher Richtung Antworten zusuchen sind. Man könnte sich, nur als Beispiel, mit einer Umschreibung des Gegenstandsbereiches behelfen, oder mit der Beschreibung der Perspektive, der Verfahren und der Untersuchungsmethoden unter denen Gegenstände in den Blick genommen werden. Daher sind auch in den im strengen Sinn wissenschaftlichen Disziplinen Einführungen möglich und brauchbare, nützliche Lehrbücher.
Die Philosophie hat in diesem Punkte die weitaus schlechteren Karten. Von der Logik, dem einzigen Gebiet der Philosophie (sofern sie überhaupt zur Philosophie zu rechnen ist), das wie eine wissenschaftliche Disziplin aufgebaut ist, abgesehen, gibt es kaum Einführungen und keine überzeugenden Lehrbücher, aus denen man die Philosophie lernen könnte. Die Einführung in die Philosophie ist eine hohe Kunst, die bestenfalls von den in ihrem Dienste Ergrauten beherrscht wird. Die wenigen guten Einführungen sind vergriffen. Handbücher und Wörterbücher der Philosophie nützen in der Regel nur dem etwas, der schon in der Philosophie „drin“ ist, was, alles in allem, auch von den Lehrbüchern gilt, sofern sie nicht suspekt oder, zumindest, umstritten sind.
Daß die Philosophen keine systematischen Lehrbücher zustande bringen, mag mit der Eitelkeit zu tun haben, die man ihnen nachsagt. Es gibt dafür aber auch sachliche Gründe. Es scheint nämlich, daß alles, was man in der Philosophie und an ihr lernen kann, nicht die Philosophie ist. Das heißt nicht, daß die Philosophie aus dem hohlen Bauch, oder, was auch nicht gerade appetitlicher ist, aus der Tiefe des Gemütes, die die Schnulzen gebiert, getrieben wird. Wer sich nicht mit Kant oder Plato auseinandergesetzt, Descartes oder Aristoteles einläßlich studiert hat, nicht jeden, aber einen gründlich; und wer nicht weiß, was „transzendental“ im Unterschied zu„transzendent“ bedeutet, kann auch nicht philosophieren, was dies auch immer bedeuten mag. Es gibt also durchaus Lernbares in der Philosophie, eine Begrifflichkeit auch, in der Position, wie die Kantische, angemessen dargestellt oder ein philosophisches System rekonstruiert werden muß. Aber was weiß man eigentlich, wenn man Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in der ihr angemessenen Begrifflichkeit rekonstruieren kann? Wer das Fallgesetz an den Texten des Galilei studiert hat, weiß etwas, was unabhängig von den „Discorsi“ gilt und in keiner Weise an die ursprüngliche Textgestalt des Galilei gebunden ist. Wer demgegenüber die Kritik der „reinen Vernunft“ studiert, studiert Kant: Er weiß dann, wie Kant den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß interpretiert, und, wenn der Kantleser selbst ein Wissenschaftler ist, daß Kant bezüglich seiner Auslegung der Wissenschaft in gewissen Hinsichten antiquiert ist.
Wenn also das Studium der Philosophie überhaupt einen Sinn haben soll, kann er sich nicht in der Rekonstruktion eines klassischen Werkes oder des Lebenswerkes eines Klassikers der Philosophie erschöpfen, obgleich man nicht ohne das Studium eines Klassikers an die Philosophie heran- oder besser: in sie hineinkommt. Der Akzent unserer Fragestellung hat sich damit verschoben: Wir fragen nicht mehr, was die Philosophie sei, sondern zu welchem Ende man sie studiert, in der Hoffnung, über die Frage nach dem Sinn des Philosophierens an die, was sie eigentlich ist, heranzukommen. Doch viel weiter kommt man auf diesem Weg auch nicht. Denn die Philosophie ist eine ganz und gar brotlose Kunst. Die Philosophen, selbst die promovierten und habilitierten der Zunft, können nichts besonderes. Und da alles Können ein spezifisches ist, liegt der Schluß nahe, daß sie überhaupt nichts können.
Der Ingenieur kann Brücken bauen und Motoren entwerfen, der Arzt diagnostizieren und therapieren, der Forscher neues Wissen auf irgendeinem Gebiete schöpfen: Der Philosoph kann nichts in diesem Sinne und er leistet nichts vergleichbares. Ihre Verächter lassen die Philosophie deshalb auch an der Spitze der„Schwätzwissenschaften“ rangieren. Schon die Aufklärung hat im achtzehnten Jahrhundert den Philosophen im Bilde eines nichtsnutzigen, zynischen Schmarotzers gezeichnet. Es hat nun allerdings auch Zeiten gegeben, in denen man gewissen zweck- und nutzlosen Künsten den Ehrentitel „Freie Künste“ verliehen hat. Die Philosophie ist demnach eine Kunst (ein Können), die den freien Mann ziert: Dies ist der Mann – mit den Frauen hat sich die Philosophie lange Zeit sehr schwer getan –, der die Erfüllung seines Lebens nicht in der Berufsarbeit, in den Geschäften, wie man zu sagen pflegte, sucht. Der Philosophie obliegt nach dieser Vorstellung die Entwicklung des menschlichen Denkvermögens, das sich unabhängig von allen gesellschaftlich vermittelten Partikularinteressen, Positionen und Funktionen ausschließlich um das „gute“, d.h. das dem Menschen angemessene Leben (eu zen) kümmert. Die so entwickelte, von allen gesellschaftlichen Bindungen befreite Vernunft des freien Mannes ist dann auch in der Lage, ein gerechtes, das gute Leben ermöglichende Gemeinwesen zu entwerfen und, so man ihm die Gelegenheit dazu einräumt, zu organisieren.
Was diesen ethisch-politischen Aspekt angeht, hat die Philosophie kaum einmal gehalten, was sie zu versprechen schien. Vor allem hat sie niemandem vor politischer Torheit bewahrt. Und in den meisten Fällen, in denen die Philosophen sich im Laufe der Geschichte zu heftig in die öffentlichen Angelegenheiten eingemischt haben, ist es in einer Weise geschehen, die einen von der Herrschaft der Philosophen nichts Gutes erwarten läßt.
Wie dem auch sein und wie immer es sich mit den politisierenden Philosophen verhalten haben mag; sicher ist, daß man auch ohne Philosophie frei sein und in Fragen des Gemeinwohls mitreden kann; wenn das mit dem Freisein und dem Gemeinwohl in unserer Zeit nicht so ein Sache wäre.
Es scheint also, von welcher Seite man es auch angehen und ansehen mag, daß die Philosophie vollkommen überflüssig ist, oder vorsichtiger gesagt, überflüssig geworden ist. Nun rede hier niemand von der positiven Bedeutung des Überflusses! Wo und wie die Philosophie unser Leben im Sinne dieser Bedeutung von Überfluß bereichert, müßte erst noch nachgewiesen werden. Und es fragt sich, ob uns dieser Überfluß nicht reicher und reiner, also überzeugender aus den Künsten fließt. So bleibt es also dabei: Die Philosophie ist überflüssig geworden. Sie präsentiert sich als eine Disziplin, die weithin aus der Erinnerung an eine ruhmreiche und ehrenvolle Vergangenheit lebt. In dieser Erinnerung, so scheint es, hat sie überlebt, und sich selber auch.
Mit ihrer Vergangenheit darf sie für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, die abendländisch-europäische Wissenschaft begründet zu haben. An diesem Ruhm hängt aber auch ihre Tragik. Mit dem Gründungsakt hat, wie es scheint, die Philosophie ihre weltgeschichtliche Mission erfüllt, so daß dieser sich in Wahrheit als das Testament erweist, mit dem sie sich auf das Altenteil zurückgezogen hat. Daß sich die Testamentsvollstreckung nun schon über mehr als tausend Jahre hinzieht, ändert nichts an der Tatsache, daß sie ihr Vermögen den Erben hinterlassen hat.
Was aber ist das Vermächtnis und Erbe der Philosophie? Die Philosophie hat, versucht man ihre Leistungen auf einem hohen Abstraktionsniveau zusammenzufassen, die Idee der logischen Durchdringung der Wirklichkeit, die Idee ihrer Vermessung und Verortung im logischen Raum in die Welt gesetzt. Dies hat mit dem Versuch begonnen, an die Stelle von Schöpfungsmythen die Erklärung der Welt aus einem Prinzip (oder wenigen Elementen) zu setzen: Einer vollkommen „unnatürlichen“ Einstellung zur Wirklichkeit, über die schon die Magd des Thales sich vor Lachen gekrümmt haben soll. In dieser Idee (der eigentlichen idée directrice der Wissenschaften) liegt die grandiose Herausforderung, die gegenständliche Welt in einer Sprache zu erfassen, die, unbeschadet der Geltung der je eigenen Grammatik, nach universellen, für alle Sprachen geltenden Regeln des Denkens gebraucht wird. Bei dieser Darstellung der Wirklichkeit im logischen Raum werden die Aussagen durch empirische Daten zwar belegt, ohne jedoch in der Wahrnehmung begründet zu sein. Was ist, und was Sache ist, ist zuverlässig nicht mit den Sinnen zu erfassen, sondern nur in der Form der Aussage. In den Aussagen allein sind die Dinge und Sachverhalte wahrhaft gegenwärtig über allen Wandel, dem die Sinne unterliegen, hinaus. (...)

Autor: Klaus Giel


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